Patient tot, Operation gelungen? Oder: Weidner, Becker, Staatsanwalt

Wenn ein Arzt ein Geschwür an seinem Patienten entdeckt und dann sofort beginnt, den Patienten mit allen Skalpellen, Sägen und Messern zu malträtieren, die gerade in Reichweite sind, und wenn dann der Patient irgendwann tot ist und der Arzt das kommentiert mit: „Aber das Geschwür ist weg“, dann ergibt das nur bedingt Sinn.

Fast jede Form von Extremismus ist ein Geschwür, eine Wucherung. Keine Gesellschaft kann und darf Extremismus – egal welcher Art – letztlich tolerieren, wenn sie ihren inneren und äußeren Frieden wahren will. Das gilt für rechten, linken, religiösen, wirtschaftlichen und jedweden sonstigen Extremismus gleichermaßen. Diesen als Geschwür zu entfernen ist die Pflicht jeder Gesellschaft, die sich selbst (gesund) erhalten will, und somit die Pflicht eines jeden Mitglieds dieser Gesellschaft. Im Gegensatz zu den mir bekannten Effekten von Geschwüren im medizinischen Sinne kann politisch-gesellschaftlicher Extremismus allerdings vorübergehend wichtig sein – und ich sagte „wichtig“, nicht nötiger Weise „gut“. Denn vor allem neue extreme Auslagen können gelegentlich wichtige Positionen in den allgemeinen, immerwährenden Veränderungsprozess von Demokratien einbringen oder gar zur Demokratisierung undemokratischer Systeme führen. Allerdings müssen diese extremen Positionen sich im Lauf der Zeit wieder in die Mitte der Gesellschaft integrieren, um langfristig einen positiven Effekt zu erzielen. Siehe z.B. die ehemalige Einstufung als Terroristen mehrerer Friedensnobelpreisträger, die Frühgeschichte der Grünen, fast jede Revolution der Geschichte, etc.

Unter die positiven Aspekte des „gelegentlichen Extremismus“ fällt eines aber auf jeden Fall NICHT: die rückwärtsgewandte, systemimmanente Beurteilung und folgliche Rechtfertigung der Taten extremer Regime, die eine heutige demokratische Gesellschaft zu Recht als Unrechtsregime einstuft. Ließe man diese zu, müsste man jede Handlung des Nazi-Regimes, jeden Todesschuss an der innerdeutschen Mauer, die Verbrechen Stalins, Maos, Pinochets, der katholischen Kirche und vieler anderer als legitim betrachten, da sie innerhalb der zu ihrer Zeit geltenden Regeln des Systems legitim waren und somit angeblich nicht im Nachhinein verurteilt werden können.

Eine solche unzulässige Interpretation hat Norbert Weidner, Chefredakteur der Burschenschaftlichen Blätter, angewandt, als er Dietrich Bonhoeffer (übrigens selber Verbindungsstudent, wenngleich kein Burschenschafter) 2011 als „Landesverräter“ bezeichnete. Denn ein „Landesverräter“ war Bonhoeffer eben nur aus Sicht derer, die wir heute als ungeheuerliche Verbrecher erkannt haben – jedenfalls mit einem sehr, sehr breiten Konsens, der erst im extremen Bereich endet. Solche Äußerungen in jüngerer Zeit ordnen Weidner meines Erachtens viel eindeutiger dem extrem rechten Rand zu als eine Vergangenheit, die vielleicht tatsächlich vergangen sein mag, oder schlecht belegte Spekulationen über Verbindungen zu rechtsextremen Kameradschaften und ähnlichem. Verantworten muss man sich für solche Äußerungen zum Glück seit Bestehen der Bundesrepublik wie beispielsweise im Jahr 2002 auch dieser mir entfernt bekannte Major der Bundeswehr. Ob das Urteil gegen Weidner im vorliegenden Fall deswegen unter allen juristischen Gesichtspunkten gerechtfertigt ist, kann ich als Nichtjurist nicht beurteilen.
Genauso wenig kann ich als Sängerschafter die Vorgänge beurteilen, die innerhalb des Dachverbandes der Deutschen Burschenschaft, deren „Insider“ ich nicht bin, dazu geführt haben, dass die Querelen zwischen einer „wertkonservativ-liberalen“ Mehrheit und einer rechtsextremen Minderheit nicht intern ausgetragen werden konnten. Das beleuchtet Beckers Gastautor Friedrich Engelke aus einer wesentlich besser und interner informierten Perspektive in seinem Blogbeitrag „DB-Desaster in Eisenach„.

Christian Becker jedenfalls, selber Burschenschafter und sogar Bundesbruder von Weidner, kämpft gegen solche Äußerungen und vielleicht Schlimmeres zu Recht. Das war’s dann allerdings auch schon. Und jetzt kommt ein großes ABER…

Hier kommen wir nämlich zurück zum ersten Absatz dieses Eintrags. Man könnte Becker und Weidner fast für Mitglieder des gleichen Teams halten, die sich gemeinsam zum Ziel gesetzt haben, die Deutsche Burschenschaft zu zerstören. Der eine agiert in dieser Krankenhaus-Soap als „das Geschwür“, der andere als „der Arzt“, der den Patienten rund um das Geschwür wegschneidet und dann die Operation für erfolgreich erklärt bzw. bei offenem Brustkorb beleidigt das Besteck in die Ecke wirft, weil Familie des Patienten und das sämtliche OP-Team seine Vorgehensweise bezweifeln.

Zitat:
„Dann sollen die 10.000 Burschenschafter lieber weiter im braunen Sumpf versinken. Die burschenschaftliche Ursprungsidee von Demokratie und Bürgerrechten wird durch die Rechtsextremen und ihre Dulder und Sympathisanten ad absurdum geführt. Rechtsextreme nehmen die burschenschaftliche Idee in Geiselhaft und saugen Geld, Idee und Tradition aus. Es wird bald nichts mehr übrig sein.“

Nachdem Becker einen seiner Blogs einstellen musste, weil er offensichtlich gegen Presserecht (Impressumspflicht u/o Ähnliches) verstoßen hatte, resümiert er in einer Info-Mail unter anderem folgende Ergebnisse seiner bisherigen Tätigkeit.

  • Burschenschaftlicher Verband nach 100 Jahren vor der Auflösung wegen Rechtsextremen
  • Breite Diskussion in der Öffentlichkeit zu rechtsextremen Burschenschaftern
  • von 10.000 Burschenschaftern konnten nur 20 gegen rechtsextreme Burschenschafter aktiviert werden
  • es konnte keine Welle von liberalen Burschenschaftern gegen Rechtsextreme gestartet werden

Dass es für den einen oder anderen dieser Punkte Gründe geben mag, die zum einen weniger und zum anderen mehr mit ihm persönlich zu tun haben, als Becker das sehen möchte, kommt ihm nicht in den Sinn. Und ob das alles wirklich auf Ziele zusteuert, die wünschenswert sind, anscheinend auch nicht. Ist Becker nur in die Burschenschaft eingetreten, um die Auflösung des Dachverbandes herbeizuführen? Das ist unwahrscheinlich. Warum aber liest sich „Burschenschaftlicher Verband nach 100 Jahren vor der Auflösung wegen Rechtsextremen“ dann aber so, als betrachte er das irgendwie als Erfolg? So wie auch den Punkt „Breite Diskussion in der Öffentlichkeit zu rechtsextremen Burschenschaftern“, der vor allem mich und viele andere Verbindungsstudenten, die aber eben nicht der DB angehören, ordentlich nervt, weil besagte „Öffentlichkeit“ weiterhin gerne „Burschenschaft“ als Überbegriff für alle Korporierten missversteht.
Diesen Sog zu vermeiden, geben sich Weidner und Becker gleichermaßen wenig Mühe und die berichtende Presse ist an relativierenden Äußerungen in einer polarisierten Geschichte natürlich auch wenig interessiert. Warum wird denn in keinem Artikel, den ich gelesen habe, erwähnt, dass auch der Widerstandskämpfer Bonhoeffer ein Verbindungsstudent war? Wie übrigens noch manch andere anerkannte Widerständler auch. Ich wage sogar zu behaupten, ohne das allerdings durchgerechnet zu haben, dass die Gesamtheit der Studentenverbindungen prozentual gesehen mehr Widerstandskämpfer hervorgebracht hat, als die deutsche Gesamtbevölkerung während des Dritten Reiches. So etwas will aber die Presse genauso wenig berichten, wie es eine Minderheit rechtsextremer Korporierter verstehen will. Wahrhaft aufrechte Männer waren Bonhoeffer und viele andere – eben nicht Mitläufer eines blutrünstigen, nationalen Massenwahns, der mit „aufrecht“ eher meinte, dass man auch bitte brav mitmache beim Morden aufgrund von Hirngespinsten einer Oligarchie von Parteifunktionären. Ich verliere den Faden…

„Faden verlieren“ ist aber ein hervorragendes Stichwort. Denn der gegen die „Braunbuxen“ anbloggende Christian Becker hat meines Erachtens ebenfalls gänzlich den Faden und deswegen die Unterstützung auch der liberalen Burschenschafter und vieler anderer Verbindungsstudenten verloren. „von 10.000 Burschenschaftern konnten nur 20 gegen rechtsextreme Burschenschafter aktiviert werden“ schreibt er. Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Vor allem weil die Kampagne keine gezielte Operation mit sicher geführtem Skalpell ist sondern ein wildes Hauen, Stechen und Werfen mit allem was greifbar ist – egal, ob es dem eigentlichen Ziel dient oder zu massiven Kollateralschäden führt.
Becker bloggt anscheinend über alles was irgendwie am rechten Rand passiert- über Stammtische der „Blauen Narzisse“, über aus dem olympischen Dorf abreisende Ruderinnen, über Kinderpornos auf Rechnern des Braunen Hauses der AB Mittelrhein und natürlich immer wieder über Weidner und die Burschenschaft der Raczeks in Bonn. Und er tut das genau wie ich eben: in einem Satz und ganz egal, ob es da gerade einen Zusammenhang gibt oder nicht und unter dem Titel „Burschenschafter packt aus“.
Das, lieber Herr Becker, ist nicht seriös. Das sind Methoden der Volksverhetzung. Und das fällt unter „wenn wir Terror mit Terror bekämpfen, dann sind wir bald wieder so weit“. Klar, der Slogan lautet „Nazis erst auf die Palme und dann vor den Kadi“. Aber auf die Palme bringt das auch alle, die befürchten müssen, in Sippenhaft genommen zu werden – und zwar nicht, weil es dafür irgendeinen Grund gäbe, sondern wegen der schieren Assoziationen, die sich in immer mehr Köpfen festsetzen werden, wenn man nur lange genug in den Medien das Mantra betet. Und das Sippenhaft hier plötzlich völlig in Ordnung zu gehen scheint, das zeigt die oben erwähnte Olympia-Meldung nicht zum ersten Mal.

Ach, was soll’s. Ich hab einfach sowas von die Faxen dicke.
Weidner, Becker: wenn Sie vor hatten gemeinschaftlich den sowieso wackligen Ruf des Korporationswesens schwer zu schädigen, dann HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ALLERSEITS!

Über trinkzwang

Das Buch:          Männer-WG mit Trinkzwang    ab 02.07.2012 im Handel "Nenn mich gern weiter Burschi. Ich für meinen Teil bin Sängerschafter. Wir singen manchmal auch vor dem Saufen."        Über die Zimmersuche landete ich 1989 in einer Studentenverbindung. Eigentlich wollte ich nur sechs Wochen bleiben, doch es sieht inzwischen so aus, als würde ein ganzes Leben daraus. Denn auf dem Haus gab es nicht nur ein billiges Zimmer, sondern auch immer etwas zu erleben - auch heute noch, wenn ich immer mal wieder da bin. Im Buch kommt viel Alkohol vor, zudem diverse Verbindungen unterschiedlicher Gattung, Trinkrituale, das Fechten, die Frage nach Historismus, Chauvinismus oder harmlosem "Trachtenverein", seltsame Typen, eine vernachlässigte Freundin, ein paar andere Frauen, ein Revoluzzer, die Uni, einige Kneipen, eine jamaikanische Gottheit, die Bands "Minor Threat" und "Fuck No!" und ein sehr schöner Baum.
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8 Antworten zu Patient tot, Operation gelungen? Oder: Weidner, Becker, Staatsanwalt

  1. rewriomo schreibt:

    Wenn Sie Beckers Methoden ablehnen, dann sollten Sie nicht durch Verlinkungen auf seinen Blog dessen Pagerank bei Google erhöhen.

  2. Johann Hagus schreibt:

    Komisch, dass gerade DER Norbert Weidner seinerzeit ein Seminar der Deutschen Burschenschaft zum 20. Juli 1944 organisiert hat, in dem der damalige Widerstand umfänglich und vor allem positiv geschildert wurde, siehe http://is.gd/rl23yZ und unter Addendum 2/2006 unter http://is.gd/UvPQah. Irgendwie passt das nicht zum Vorwurf gegen Weidner. Ist die Welt doch komplizierter als das zumeist genehme Rechts-links-Schema? Kann man den Widerstand vielleicht differenziert sehen?

    • trinkzwang schreibt:

      Man kann vieles differenziert sehen. Den Widerstand im Dritten Reich sollte man aber nur differenziert sehen, wenn die eigene Haltung zum Nazi-Regime nicht dem Verdacht unterliegt „uneindeutig“ zu sein.

  3. Pingback: Nerven liegen blank: Auch Sängerschafter sauer auf Burschenschafter « burschenschafterpacktaus

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